Eigentlich hatte die Bundesregierung das Ziel, ihr Digitale-Dienste-Gesetz am 11. Oktober 2023 im Kabinett zu beschließen und so die deutsche Umsetzung des Digital Services Act auf den Weg zu bringen. Dass der Termin nun geplatzt ist, sieht Lina Ehrig vom Verbraucherzentrale Bundesverband als Gefahr für die Deadline im kommenden Jahr. Sie fordert zum Wohl der Nutzenden ein Ende des Zuständigkeitsgerangels.
Gestern sollte die Bundesregierung im Kabinett beschließen, wie der Digital Services Act (DSA) in Deutschland umgesetzt werden soll. Dieser Termin ist nun kurzfristig geplatzt. Offensichtlich sind die bislang bekannten Streitthemen nach wie vor nicht abgeräumt.
Die Verzögerung ist besonders misslich, da eine fristgerechte Umsetzung bis Februar 2024 in Deutschland so quasi ausgeschlossen ist. Ab da gelten die neuen europäischen Regelungen aus dem DSA für alle Plattformen. Der DSA soll ein sicheres, vorhersehbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld schaffen. Eine fehlende Aufsicht in Deutschland über Plattformen geht somit auch und primär auf Kosten der Nutzer:innen. Damit bestätigt sich einmal mehr, dass die zentralen Interessen der Nutzer:innen hinten rüber fallen, wenn es hart auf hart kommt.
Fest steht, dass die Bundesnetzagentur (BNetzA) die zentrale Koordinierungsstelle und der Digital Services Coordinator (DSC) für Deutschland wird. Umstritten ist, ob das Bundesamt für Justiz (BfJ) und die Landesmedienanstalten (LMA) zusätzlich eigene Zuständigkeiten erhalten. Damit setzt sich bis heute der Streit fort, der das gesamte Gesetzgebungsverfahren seit seinem Beginn vor eineinhalb Jahren lähmt.
Aus meiner Sicht braucht es eine Aufsicht aus einem Guss. Natürlich müssen bei einer föderalen Struktur wie in Deutschland unterschiedliche Interessen und Besonderheiten bei den Zuständigkeiten berücksichtigt werden. Allerdings sollte das Ziel unstrittig sein: Deutschland braucht einen starken Koordinator. Dafür muss eine künstliche Aufsplitterung der Aufsicht, wenn nicht zwingend notwendig, unbedingt verhindert werden.
Aktuell sieht es aber ganz anders aus: Das Bundesjustizministerium (BMJ) kämpft dafür, dass ihr Bundesamt für Justiz (BfJ) eine eigene Zuständigkeit erhält. Hier stellt sich die Frage: Wozu überhaupt? In einem Schreiben des zuständigen Digitalministeriums (BMDV) wird auf die Aufsicht von sozialen Netzwerken verwiesen. Doch genau das würde zu einer unnötigen und künstlichen Zersplitterung führen. Der DSA selbst macht bewusst keine Unterscheidung zwischen Online-Marktplätzen und sozialen Netzwerken. Denn die Geschäftsmodelle verschwimmen immer weiter miteinander. Schon heute ist zum Beispiel Facebook ein soziales Netzwerk und bietet gleichzeitig einen Marktplatz an. Kommt es zu einer Zersplitterung der Aufsicht könnten Regelungen je nach Behörde, in diesem Fall BNetzA und BfJ, unterschiedlich ausgelegt werden. Das führt zu Diskrepanzen in der Anwendung – mit negativen Folgen für alle.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Es sollen in keiner Weise die Kompetenzen des BfJ infrage gestellt werden, die es im Zuge der Aufsicht über das Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) erworben hat. Vielmehr wäre es doch sinnvoll und folgerichtig, diese Kompetenzen in die zentrale Beschwerdestelle bei der BNetzA zu überführen. Das scheint aber derzeit pragmatisches Wunschdenken zu sein.
Bezüglich der LMAs sei angemerkt, dass laut DSA zwar eine Benennung mit eigener Zuständigkeit für Jugendmedienschutz möglich, aber nicht zwingend notwendig ist. Das heißt natürlich nicht, dass keine Zusammenarbeit erfolgen muss. Und es stellt insbesondere nicht in Abrede, dass die LMAs in ihren Bereichen hervorragende Arbeit leisten. Hinsichtlich des übergeordneten Ziels des DSA, eine möglichst effiziente Plattformaufsicht aufzubauen, sollte jedoch von einer eigenen und damit zusätzlichen Zuständigkeit abgesehen werden. So war es im Referentenentwurf des BMDV auch noch vorgesehen.
Eine Aufsplitterung würde die ausdrücklich gewünschte Rolle eines starken DSC untergraben. Er wäre dann eher eine Post- und Weiterleitungsstelle als eine Aufsichtsbehörde. Die Verfahren würden kaum bei ihm bearbeitet werden. Und spezifische Expertise für die Plattformaufsicht im Sinne des DSA würde nicht gebündelt beim DSC aufgebaut, sondern verbliebe verstreut in anderen Regulierungsbereichen.
Wenn Online-Plattformen nicht auf Beschwerden reagieren, müssen Nutzer:innen einfach Hilfe erhalten – ohne großen Aufwand und Fachwissen. Hierfür soll ein One-Stop-Shop von der zentralen Beschwerdestelle bei der BNetzA eingesetzt werden, an den sich alle Nutzer:innen wenden können und der sich um alles kümmert. Aber auch hier wird im Hintergrund an der Schwächung dieses zentralen Ansatzes gearbeitet.
Beispiel gefällig? Noch im Februar schrieb das Digitalministerium in einem inoffiziellen Referentenentwurf ohne Wenn und Aber davon, dass die Koordinierungsstelle Ansprechpartnerin der Nutzer:innen ist. Im aktuellen und offiziellen Referentenentwurf aus August heißt es dann nur, dass dies „auf Wunsch“ der Nutzer:innen erfolgen soll (Tagesspiegel Background berichtete). Was sich zunächst wie eine harmlose Änderung liest, entpuppt sich als zusätzliche Hürde für Nutzer:innen. Denn was passiert, wenn kein Wunsch geäußert wird? Wie erfahren Nutzer:innen, dass sie diesen Wunsch äußern können? Dieser Passus muss wieder gestrichen werden, damit Nutzer:innnen sich einfach und niedrigschwellig beschweren können. Wichtiger Nebeneffekt: Damit wäre gesichert, dass die Koordinierungsstelle einen umfassenden Überblick behält und effektiver ihrer Aufsicht nachkommen kann.
Nur mit einer starken Aufsicht kann den Herausforderungen begegnet werden. Und diese sind riesig. Laut Referentenentwurf müssen 5.258 Unternehmen von der Koordinierungsstelle beaufsichtigt werden. Dazu kommen neben der Bearbeitung von Beschwerden unter anderem auch die Zertifizierung von Schlichtungsstellen und Forschenden sowie Repräsentations- und Abstimmungsaufgaben auf nationaler und europäischer Ebene.
Ob dies mit den veranschlagten 62,8 Stellen möglich ist, bleibt fraglich. Denn in Zukunft ist eher mit einem Zuwachs an Aufgaben im Bereich der Plattformregulierung zu rechnen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Aufgaben auch in den aktuellen Haushaltsverhandlungen abgebildet werden. Hier könnte die Verzögerung des Gesetzes sonst verheerende Folgen haben: Wird der Haushalt 2024 schon vorher verabschiedet, könnten wir faktisch erst mit dem nächsten Haushalt eine Plattformaufsicht in Deutschland im Jahr 2025 bekommen.
Der Erfolg des DSA steht und fällt mit einer starken und funktionierenden Aufsicht. Das heißt auch, dass die Aufsicht für die Nutzer:innen da ist und dabei möglichst schlank und schlagkräftig aufgestellt wird. Davon profitieren am Ende Nutzer:innen und Unternehmen gleichermaßen. Die Bundesregierung muss sich endlich hierauf besinnen und zu einer Einigung gelangen.
Der Gastbeitrag erschien am 12. Oktober 2023 im Tagesspiegel Background Digitalisierung und KI.