Nach EU-Recht besteht bei Eintritt unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung eines Pauschalreisevertrages erheblich beeinträchtigen, das Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr und unter voller Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen vom Vertrag zurückzutreten. Der Reiseveranstalter hat den Reisenden über sein Rücktrittsrecht zu informieren. Das Gericht darf den anwaltlich nicht vertretenen Kläger bei Nichtkenntnis über dieses Recht informieren.
Der Entscheidung des EuGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger schließt am 10. Oktober 2019 mit Tuk Tuk Travel einen Pauschalreisevertrag für zwei Personen nach Vietnam und Kambodscha mit Abreise von Madrid am 8. März 2020 und geplanter Rückkehr am 24. März 2020. Der Kläger zahlt bei Abschluss 2.402 Euro als Anzahlung auf den Gesamtpreis, der sich auf 5.208 Euro beläuft. Die AGB beinhalten u.a. Informationen über die Möglichkeit, den Vertrag vor dem Abreisedatum gegen Zahlung einer Rücktrittsgebühr zu beenden. Die Möglichkeit des gebührenfreien Rücktritts aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände am Bestimmungsort sind in diesen Informationen nicht enthalten. Am 12. Februar 2020 setzt der Kläger den Reiseveranstalter von seiner Entscheidung in Kenntnis, angesichts der Ausbreitung des Coronavirus in Asien vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten und verlangt von ihm die Erstattung aller ihm zustehenden Beträge. Der Reiseveranstalter antwortet, dass ihm bei Stornierung der Reise nach Abzug der Stornierungskosten ein Betrag in Höhe von 81 Euro erstattet würde. Am selben Tag bestätigt der Kläger seine Rücktrittsentscheidung und bestreitet die Höhe der Stornierungskosten. Am 4. März 2020 teilt die Beklagte dem Kläger mit, dass sie ihm 302 Euro erstatten werde, da die mit der Durchführung des betreffenden Flugs beauftragte Fluggesellschaft ihren Reisenden eine kostenfreie Stornierung gewähre. Nach dieser Mittelung klagt der Kläger, ohne sich anwaltlich vertreten zu lassen, vor dem erstinstanzlichen spanischen Gericht und beantragt, die Beklagte zur Zahlung von zusätzlich 1500 Euro zu verurteilen. Die verbleibenden 601 Euro hält er für nicht rückforderbare Verwaltungskosten des Reiseveranstalters. Das mit der Sache befasste spanische Gericht setzt das Verfahren aus und legt dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob dem Reisenden von Amts wegen die Erstattung aller getätigten Zahlungen zugesprochen werden darf, wenn er dies nicht beantrage. Dies verstieße gegen spanisches Verfahrensrecht.
Der EuGH stellt fest, dass es aufgrund der Bedeutung des durch Unionsrecht gewährten Rücktrittsrechts und des daraus folgenden Anspruchs auf volle Erstattung aller getätigten Zahlungen, für seinen wirksamen Schutz erforderlich sei, dass das nationale Gericht einen Verstoß dagegen von Amts wegen aufgreifen dürfe, insbesondere wenn der Reisende sein Recht nicht geltend mache, weil er nicht wisse, dass es bestehe. Gerade da Tuk Tuk Travel den Reisenden pflichtwidrig nicht über sein Rücktrittsrecht informiert habe, sei nicht auszuschließen, dass dieser nicht wisse, dass dieses Recht überhaupt bestehe. Das nationale Gericht habe den Reisenden über dieses Recht zu informieren und ihm die Möglichkeit einzuräumen, es im laufenden Verfahren geltend zu machen. Es hat jedoch nicht von Amts wegen den betreffenden Vertrag ohne Gebühren zu beenden und dem Reisenden einen Anspruch auf volle Erstattung aller getätigten Zahlungen zu gewähren.
Hinweis: An diesem Verfahren war der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) nicht beteiligt. Gerne informiert Sie der vzbv alle vier bis sechs Wochen mit einem kostenlosen Newsletter über neue Urteile zum Verbraucherrecht.
Datum der Urteilsverkündung: 14.09.2023
Aktenzeichen: C-83/22
Gericht: EuGH