Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) hat in Kooperation mit dem ADAC am 1. November 2018 eine Musterfeststellungsklage gegen die Volkswagen AG eingereicht. Im Verfahren geht es nun in die erste Runde. Im September steht die erste mündliche Verhandlung an. Medienberichte und Veröffentlichungen von Rechtsanwaltskanzleien, nach denen die Musterfeststellungsklage ihr Ziel verfehlen könne, sorgten in letzter Zeit für Unsicherheit. Anlass dafür war ein Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts in Braunschweig. Darin ging es unter anderem um „Ansprüche dem Grunde nach“ und die Beteiligung ausländischer Verbraucherinnen und Verbraucher. Licht ins Dunkel der juristischen Feinheiten bringen die Anwälte Prof. Dr. Marco Rogert und Dr. Ralf Stoll von der Kanzlei R|U|S|S Litigation, die den vzbv in der Musterfeststellungsklage gegen VW vertreten.
vzbv: Warum hat sich das OLG Braunschweig zum jetzigen Zeitpunkt geäußert?
Rogert: Die Zivilprozessordnung gibt dem Gericht vor, spätestens bis zum ersten Termin auf sachdienliche Klageanträge hinzuwirken. Der vorliegende Sachverhalt ist äußerst komplex und die prozessualen Regelungen für die Musterfeststellungsklage neu. Es war daher notwendig eine Vielzahl von Klageanträgen zu formulieren. Das Gericht hat sich daher dazu entschlossen, frühzeitig vor der Verhandlung seine Ansicht zu den Klageanträgen zu äußern. Wir halten dieses Vorgehen für sinnvoll! Wir nutzen nun die Möglichkeit, uns mit den Hinweisen des Gerichts auseinanderzusetzen.
Was bedeutet der Hinweis des Gerichts, dass Ansprüche dem Grunde nach nicht festgestellt werden können? Wird das Gericht trotzdem klären, ob den Verbrauchern Schadensersatzansprüche gegen Volkswagen zustehen?
Stoll: Der Gesetzestext sieht vor, dass mit der Musterfeststellungsklage Feststellungen zu den Voraussetzungen für das Bestehen von Ansprüchen getroffen werden können. Nach unserer Überzeugung bedeutet dies, dass auch die Schadensersatzansprüche selbst „dem Grunde nach“ festgestellt werden, wenn alle verallgemeinerungsfähigen Voraussetzungen für diesen Anspruch vorliegen. Alles andere wäre bloße Förmelei und würde dem Sinn des Gesetzes zuwiderlaufen.
Das Gericht sieht dies hingegen nach seiner vorläufigen Einschätzung anders. Wir haben dieses Risiko bereits frühzeitig erkannt und entsprechende Vorkehrungen getroffen, indem wir in der Klageschrift zahlreiche Anträge zu den Voraussetzungen der Schadensersatzansprüche formuliert haben. Sollte das Gericht also zu dem Ergebnis kommen, dass Ansprüche dem Grunde nach nicht festgestellt werden können, so müsste es sich jedenfalls mit den einzelnen Voraussetzungen der Ansprüche auseinandersetzen. Das Ergebnis ist für die Betroffenen weitestgehend dasselbe. Es ist vielmehr nur eine Frage der Gestaltung einer Klageschrift.
Das Gericht wird also in jedem Fall klären, ob die zentralen – für alle Verbraucher einheitlich zu prüfenden – Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch erfüllt sind. Wenn das OLG Braunschweig oder am Ende der BGH beziehungsweise der EuGH in unserem Sinne entscheiden, ist den entscheidenden Argumenten von Volkswagen die Grundlage entzogen. Der individuellen Geltendmachung der Ansprüche steht dann nichts mehr im Wege.
Müssen Verbraucher sich jetzt von der Musterfeststellungsklage abmelden?
Rogert: Nein, keineswegs. Sollte das Oberlandesgerichts Braunschweig bei seiner vorläufigen Rechtsauffassung des Hinweisbeschlusses bleiben, macht das für die registrierten Geschädigten keinen Unterschied. Zum einen hat sich das Oberlandesgericht bislang nur zu formalen Fragen der Antragsformulierung geäußert und selbst wenn es nicht im Sinne der Verbraucher entscheiden sollte, so steht noch der Weg zum Bundesgerichtshof und für Einzelfragen auch zum Europäischen Gerichtshof offen.
Wer einen langen Atem hat und wer nicht individuell klagen kann oder möchte, sollte also abwarten.
Wem es allerdings zu lange dauert, der sollte sich rechtlich beraten lassen und entscheiden, ob für ihn eine Einzelklage in Betracht kommt. Nur wer eine solche Einzelklage vor Abschluss der Musterfeststellungsklage erheben will und kann, muss sich zuvor vom Klageregister abmelden. Dies ist bis zum 30. September 2019 möglich.
Lässt der Hinweisbeschluss erkennen, wie das Gericht den Fall in der Sache beurteilt?
Stoll: Leider gar nicht. Es geht praktisch ausschließlich um Fragen der Zulässigkeit einzelner Anträge. Hier gibt es in dem Beschluss Licht und Schatten. Einerseits wird zum Ausdruck gebracht, dass einige Anträge nach Auffassung des OLG unzulässig sein könnten. Auf der anderen Seite macht das Gericht aber auch deutlich, dass es etliche von Volkswagen beanstandete Anträge als zulässig erachtet.
Darüber hinaus erlaubt der Hinweisbeschluss keine Rückschlüsse zur Frage, ob das Oberlandesgericht die Klage für begründet hält. Begründet ist die Klage, wenn festgestellt wird, dass die geltend gemachten Ansprüche bestehen beziehungsweise die wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Wie das OLG dies sieht, wissen wir bislang noch nicht.
Der Beschluss spricht auch die Situation der im Ausland lebenden Verbraucher an. Was müssen diese beachten?
Rogert: Die Musterfeststellungsklage lebt ja zum einen davon, dass durch die Anmeldung zum Register die Verjährung gehemmt wird. Zum anderen kann sich der Einzelne auf das berufen, was im Urteil festgestellt wird. Bei Verbrauchern, die im Ausland leben und für die deutsches Recht nicht ohne Weiteres gilt, kann es dabei zu Problemen kommen. So ist bislang unklar, ob für im Ausland lebende Verbraucher durch die Beteiligung an der Musterfeststellungsklage die Verjährung gehemmt werden kann. Ungewiss ist auch, ob und inwieweit diese Verbraucher von der Bindungswirkung eines Musterfeststellungsurteils profitieren können.
Im Ausland lebenden Verbrauchern empfehlen wir daher, sich rechtlich beraten zu lassen.
Wie geht es nach dem Beschluss nun weiter?
Stoll: Wir als R|U|S|S Litigation werden in Abstimmung mit dem vzbv zu dem Beschluss Stellung nehmen. Es ist möglich, dass einzelne Anträge konkretisiert oder geringfügig umgestellt werden. An dem wesentlichen Inhalt unserer wohlbegründeten Klage ändert das nichts.
Am 30. September 2019 findet in der Stadthalle Braunschweig die erste mündliche Verhandlung statt. Vielleicht sind wir alle nach dem Termin etwas schlauer. Sicher ist das allerdings nicht.